Als die Monster menschlich wurden



In den 1970er Jahren wird der Horrorfilm neu erfunden. Einer Gruppe junger US-amerikanischer Regisseure gelingt es, das Grauen des Vietnamkriegs und die Niederschlagung der US-Bürgerrechtsbewegung zu filmischen Albträumen zu verdichten. Pickelhering über ein verrufenes Genre


Als der Regisseur George A. Romero die Filmrollen mit seinem gerade abgedrehten Horrorstreifen »Night of the Living Dead« (»Nacht der lebenden Toten«) in den Kofferraum packt und nach New York fährt, um einen Käufer zu finden, ahnt er noch nicht, dass er mit seinem ersten Spielfilm einen Nerv treffen wird. Auf der Fahrt hört er im Radio von der Ermordung des Bürgerrechtlers Martin Luther King. Wir schreiben das Jahr 1968. Der Mord an King ist der vorläufige Höhepunkt des rassistischen Hasses, den US-Regierung und -behörden gegen die Bürgerrechtsbewegung schüren und gegen jene, die den Vietnamkrieg ablehnen.

Mit seiner apokalyptischen Grundstimmung und expliziten Darstellung von Gewalt drückte »Nacht der lebenden Toten« ein pessimistisches Gefühl aus, das sich vor allem in der jüngeren Generation angesichts der Gräuel des Vietnamkrieges und der brutalen Niederknüppelung der Bürgerrechtsbewegung durch den Staat verbreitet hatte. Von der Kritik wurde der Film zunächst zerrissen: Sie hängte sich in erster Linie an der ungeschönten und direkten Darstellung von Gewalt auf. »Gewaltverherrlichung« – so lautet auch heute noch das Label, das dem gesamten Horrorgenre anhaftet. Und doch fand gerade dieses Genre Ende der 1960er und in den 1970er Jahren neue filmische Ausdrucksmittel, um Vorgänge in der Gesellschaft realistischer und erschütternder darstellen zu können. 

Eine Riege junger Filmemacher brach zu dieser Zeit mit den vorherrschenden Konventionen des US-amerikanischen Films – und mit einer Reihe gesellschaftlicher Tabus: Geschockt vom Grauen des Vietnamkrieges, rassistischer Gewalt und Ereignissen wie dem »Kent-State-Massaker« der Nationalgarde an friedlichen Antikriegsdemonstranten lieferten neben Romero Regisseure wie Tobe Hooper (»The Texas Chain Saw Massacre«), Wes Craven (»The Last House on the Left«) oder John Carpenter (»Halloween«) verstörende Filme ab. Deren wütendes Statement war: Der »amerikanische Traum« hat sich in einen Albtraum verwandelt.

Zwei Neuerungen, eine inhaltliche und eine formale, zeichnen diese mittlerweile zu Klassikern des Genres zählenden Filme aus. Anhand dieser Innovationen wird erklärbar, warum der pauschale Vorwurf der Gewaltverherrlichung so vehement geäußert wurde – obwohl er nicht zutrifft. Auf der inhaltlichen Ebene revolutionierte der Horrorfilm in den 1970ern die Darstellung des Grauens: Es waren nicht mehr mythische Monster wie Werwölfe oder Vampire, außerhalb der Gesellschaft stehende, übernatürliche Bedrohungen, die Schrecken verbreiteten. Das Grauen kam nun aus der Mitte der Gesellschaft. In Wes Cravens »The Last House on the Left« aus dem Jahr 1972 geht die Gefahr von einer Gruppe sadistischer Krimineller aus. Im zweiten Teil des Films sind es dann die Eltern eines der Opfer, die sich in einer dem Sadismus der Kriminellen ebenbürtigen Gewaltorgie an den Tätern rächen. In Tobe Hoopers 1974 erschienenem »The Texas Chain Saw Massacre« ist es eine Gruppe ehemaliger Schlachthausangestellter, die zu Kannibalen degeneriert sind. Der Gewalttäter in John Carpenters 1978 erschienenem »Halloween« ist ein psychisch gestörter Killer, der die vermeintliche Idylle einer Vorstadtsiedlung »stört«.

In Romeros Zombiefilmen geht die eigentliche Bedrohung nicht von Untoten aus, sondern von den Lebenden. In »Die Nacht der lebenden Toten« ist dies eine an rassistische Südstaatler erinnernde Bürgerwehr, die ohne Wimpernzucken alles abknallt, was ihr vor die Flinte kommt. Am Ende des Films erschießen Angehörige eine solcher Gruppe auch die Hauptfigur, den Schwarzen Ben (dargestellt von Duane Jones). Danach folgt eine Sequenz, die in die Filmgeschichte eingegangen ist. In grobkörnigen Einzelbildern wird gezeigt, wie die Bürgerwehr die getöteten Zombies – und auch den irrtümlich für einen Zombie gehaltenen und erschossenen Ben – mit einer Art Fleischerhaken abtransportiert, zu Haufen schichtet und verbrennt. Das damalige Publikum assoziierte diese Sequenz mit Bildern realer rassistischer Lynchmorde und mit der Art und Weise, wie der Vietnamkrieg in den Nachrichten dargestellt wurde. Auch die Sprache der Filmfiguren erinnert an Vietnam. So redet die Hauptfigur Ben über seine Begegnung mit Zombies wie ein Veteran über seine Kriegserlebnisse: »50 oder 60 von diesen Dingern standen da und starrten mich an. Ich fahr auf sie zu, pflüge durch sie hindurch. Sie bewegen sich nicht von der Stelle. Sie standen da und starrten mich an. Es knirscht als ich durchfahre. Sie flatterten durch die Luft wie Puppen.«

Die zweite Innovation betrifft die Technik der Darstellung: Die Kamera nimmt meist eine beobachtende, neutrale Position ein und gibt den Filmen damit einen an Dokumentationen oder Nachrichtensendungen angelehnten Charakter. Dadurch, dass das Geschehen authentisch wirkt, wird der Schrecken potenziert. Diese stilistische Neuheit kann auf die bis dato ungekannte explizite Darstellung von Gewalt in den Nachrichten zurückgeführt werden. In seinem filmwissenschaftlichen Aufsatz »Die Position des Zuschauers im Terrorfilm« schreibt Jerome Philipp Schäfer treffend: »Tatsächlich war die TV-Berichterstattung aus Vietnam eine entscheidende Zäsur (…) die Wirklichkeit wirkte bedeutend grausamer als die Fiktion der damaligen Zeit, so dass der Zuschauer im Hollywood-Film nur noch ›gesäuberte Versionen der Wahrheit‹ sah.« 

Reale Bilder wie jenes vom Polizeichef von Saigon, General Nguyen Ngoc Loan, der 1968 vor den Kameras westlicher Reporter den Vietcong-Angehörigen Nguyen Van Lem mit einem Kopfschuss hinrichtete, brannten sich ins kollektive Gedächtnis ein. Wes Craven erklärte in einer TV-Doku, dass jene Szene in »The Last House on the Left«, in der Mari von einem der Kriminellen angeschossen wird, der Erschießung Nguyen Van Lems nachempfunden sei.

Doch ging es den genannten Horrorregisseuren keineswegs nur darum, Gewalt realistisch darzustellen. Der Zuschauer sollte auch die Leiden der Opfer in den Filmen und die Destruktivität von Gewalt nachempfinden können.

In »The Last House on the Left« sind nicht nur die Kriminellen sadistisch-gewalttätig. Auch die gutbürgerlichen Eltern eines der Opfer geraten in einen Blutrausch und rächen sich an den Tätern. Dabei wird die Rache nicht verharmlost, verherrlicht oder gerechtfertigt. Deren Auslöser, das an ihrer Tochter begangene Verbrechen, tritt in den Hintergrund. Stattdessen wird die Verselbständigung der Gewalt dargestellt. Sie hat keinen Sinn, dient keinem höheren Zweck (auch nicht der Selbstverteidigung) und endet in einer Sackgasse. Am Schluss des Films sieht man Vater und Mutter kraftlos und psychisch am Ende vor den Trümmern ihres Familienlebens stehen. 

In Tobe Hoopers »The Texas Chain Saw Massacre« vermeidet der von der Kamera eingenommene beobachtende Blick eine Aufteilung in Gut und Böse wie sie bis dato im klassischen Horrorfilm vorherrschte. Die wertenden Kategorien werden abgelöst durch die sachlichen Kategorien Täter und Opfer. Dadurch wird »das Böse« nicht länger ins Mythische überhöht und verliert damit sozusagen seinen Glanz. Klassische Monster wie Dracula oder Frankenstein hatten immer auch etwas Sympathisches oder Reizvolles. In den 1970er Jahren wird »das Böse« entmythologisiert und als Bestandteil menschlichen Verhaltens dargestellt. Obwohl die Kamera meist einen neutralen Blick vermittelt, wird »das Böse« durch diesen Kniff unerträglicher.

In dem bereits zitierten Aufsatz schreibt Jerome Philipp Schäfer über diese Art Filme: »Im Terrorfilm wurde Blut nicht mehr um des Blutes willen gezeigt, sondern um eine ganz spezifische Atmosphäre der Gnaden- und Ausweglosigkeit zu erreichen (...). Es sollte sich ein Gefühl der Unerträglichkeit des Sichtbaren einstellen«.

Aufs Korn nahmen diese Filme aber auch bestimmte Familienideale. Schockierend wirkte auf die damaligen Zuschauer etwa eine Szene aus Romeros »Night of the Living Dead«, in der ein kleines Zombiemädchen seine Eltern tötet und anschließend verspeist. Oder jene skurrile Episode aus »The Texas Chain Saw Massacre«, in der Sally von der Kannibalenfamilie gezwungen wird, mit dieser am Essenstisch »Platz zu nehmen«. Augenzwinkernd wird hier die Vorstellung von heiler Familie oder harmonischen Zusammenkünften der Sippe im wahrsten Sinne des Wortes auseinandergenommen. In John Carpenters »Halloween« verwandelt sich eine idyllisch anmutende Vorstadtsiedlung, in der weiße Mittelschichtler leben und sich in Sicherheit wägen, in einen Ort des Schreckens.

Es gibt durchaus viele Horrorstreifen, die sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, blutrünstig, sadistisch oder frauenfeindlich zu sein. Das Genre ist keineswegs per se gesellschaftskritisch. Aber es ist eben auch nicht per se konservativ oder reaktionär. 

Mittlerweile sind Horrorfilme längst im Mainstream-Kino angekommen. Doch meist sucht man in heutigen Streifen vergebens ähnlich kritische Untertöne wie in den dargestellten Klassikern. Selbst in Remakes dieser Filme wird die Gesellschaftskritik ausgeblendet. Teilweise wird die ursprüngliche Aussage sogar ins Konservative gewendet – wie in Zack Snyders Neuverfilmung von George Romeros konsumkritischen »Dawn of the Dead«. Doch einige aktuelle Filme wie J. T. Pettys »The Burrowers« mit seiner deutlichen Kritik am Rassismus der US-Kavallerie zur Zeit des »Wilden Westens« oder Sam Raimis »Drag me to hell«, der unterschwellig die Verkommenheit der Finanzwelt aufs Korn nimmt, zeigen, dass das Genre Gesellschaftskritik noch nicht ganz verlernt hat.

(Pickelhering hat den Artikel für das Magazin marx21, Heft 24, Februar/März 2012 geschrieben)

Anmerkung:
Das Frauenbild in Horrorfilmen ist nicht Thema des Artikels, aber zur Beurteilung des Genres ebenfalls wichtig. Verwiesen sei deshalb auf den Dokumentarfilm »Science of Horror« (Deutschland 2008) der Berliner Regisseurin Katharina Klewinghaus.

Filmtipp:
»The American Nightmare«, Dokumentarfilm, Regie: Adam Simon, USA 2000
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